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Julia Borsch

Endlich wieder laufen können mit der LION-Methode

Region. Prof. Dr. Marc Possover im Interview über die Besonderheiten des LION-Behandlungsverfahrens.
Prof. Dr. Marc Possover im Interview mit dem WochenSpiegel.

Prof. Dr. Marc Possover im Interview mit dem WochenSpiegel.

Bild: Privat

Was die LION-Prozedur (Laparoscopic Implantation Of Neuroprothesis) so besonders macht und wie Querschnittsgelähmte dadurch wieder laufen können, erfahren Sie im WochenSpiegel-Interview mit Prof. Dr. Marc Possover, dem Begründer der Neuropelveologie, einer noch jungen medizinischen Fachrichtung.

Erklären Sie uns kurz die Methode, die hinter dem neuen LION-Behandlungsverfahren steckt.

Prof. Possover: Die LION-Prozedur ist die weltweit erste Technik, die es erlaubt, bestimmte Beckennerven ganz gezielt durch die Platzierung von Elektroden elektrisch zu stimulieren. Um es konkret zu formulieren: Per Bauchspiegelung implantieren wir Elektroden und einen Schrittmacher, auch Pacemaker genannt, an die Beckennerven. Dadurch werden zum einen die glutealen Muskeln in den Gesäßbacken angeregt, zum anderen die Nerven stimuliert, die die Muskeln der Oberschenkel kontrollieren. Weil dadurch die Kniegelenke gestreckt werden können, sind Beinbewegungen und damit Schritte möglich.

Wie weit kommen die Patienten?

Prof. Possover: 70 Prozent unserer Patienten können mindestens zehn Meter frei, mit Rollator oder Krücke gehen. Unser bester Patient kann sogar 2,6 Kilometer absolvieren. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass auch diese Patienten querschnittsgelähmt bleiben, denn das Gleichgewicht kann durch die LION-Methode nicht wiederhergestellt werden.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich geschädigte Nerven erholen können?

Prof. Possover: Wir haben über zehn Jahre unsere Patienten beobachtet und waren selbst überrascht: 70 % unserer erfolgreich operierten Patienten sind in der Lage, stromunterstützt willkürlich ihre Beine bewegen zu können. Der Schrittmacher stimuliert die Beckennerven in Richtung des Gehirns und "motiviert" dadurch das Rückenmark (bei inkompletter Querschnittlähmung) oder eventuell Nervenbahnen außerhalb des Rückenmarkes, die verlorene Funktion wiederherzustellen. Forscher haben somit herausgefunden, dass die Nervenstimulation das Potenzial besitzt, das Nervenwachstum und damit die erneute Verbindung der Nervenfasern zu fördern.

Spielt die Zeit zwischen Unfall und Operation eine Rolle?

Prof. Possover: Eindeutig ja. Ich würde mir wünschen, dass man die OP bei einem Querschnittsgelähmten so früh wie möglich durchführt. Tatsache ist, dass ich seit 15 Jahren das LION-Verfahren nur an chronisch querschnittsgelähmten Patienten durchführe. Dann kommen andere Faktoren ins Spiel, wie etwa Osteoporose, Muskelschwund und Verlust der Motivation. Gerade Letzteres ist aber ein extrem wichtiger Aspekt, der über das Ergebnis entscheidet. Mit der OP ist es nämlich nicht getan, denn nach der Implantation muss der Patient täglich die Nerven trainieren, um das Nervensystem wieder zu erwecken. Das ist nicht so einfach, denn einem Querschnittsgelähmten zu sagen, dass Laufen wieder möglich ist, erfordert in erster Linie seine Akzeptanz. Er hat ja bisher nur Gegenteiliges gehört.

Wie wichtig ist Sport?

Prof. Possover: Er ist unverzichtbar, sobald die OP erfolgt ist. Dann gehört tägliches Training ausnahmslos dazu. Patienten, die vor dem Unfall sportlich unterwegs waren, haben es leichter. Sportler gelten als diszipliniert und ziehen ihr Programm auch dann durch, wenn sie mal keine Lust haben. Wenn sie dann auch noch Verantwortung für ein Tier, etwa ein Pferd oder einen Hund, übernommen haben, wirkt sich das noch einmal positiver auf die Motivation aus. Laufen können bedeutet ja noch so viel mehr.

Prof. Possover: Einem Querschnittsgelähmten ermöglicht das LION-Verfahren Unabhängigkeit und eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität. Aber die Stimulation der Beckennerven bewirkt noch viel mehr, denn sie sind ja auch zuständig für die Blasen- und Darmfunktion sowie die Sexualität. Außerdem bauen wir mit LION die Knochendichte wieder zurück. Ebenso wird die Gesäßmuskulatur wieder aufgebaut und dadurch der Blutfluss stimuliert, was eindeutig vor Dekubitus schützt. Und nicht zuletzt stimulieren wir auch den Vagus-Nerv, der ja bekanntlich glücklich macht. Doch die OP bleibt eine Frage des Geldes.

Prof. Possover: Diese Operationsmethode ist noch relativ jung und deshalb nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen bzw. Krankenversicherungen enthalten. Diese sind also nicht verpflichtet, die OP-Kosten zu übernehmen.

Interview: Edith Billigmann
Prof. Dr. Marc Possover


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